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18-01-2021        Migazin [Al]

150 Jahre Reichsgründung: Bundespräsident Steinmeier erinnerte in seiner Rede an die folgenreiche Hypothek für unsere Gegenwart. Jedoch übersah er ein schweres Erbe für ein plurales demokratisches Deutschland

Im Januar 2021 jährt sich die deutsche Reichsgründung zum 150. Mal mit dem 18. Januar als Jubiläum der Kaiserkrönung. Aus diesem Anlass erinnerte Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier in einer Rede am 13. Januar daran, dass die nationale Einheit mit einer folgenreichen Hypothek für unsere Gegenwart einhergegangen sei, nämlich der „Verachtung von Pluralismus und Demokratie“. Vor dem Hintergrund der heutigen wieder anwachsenden neo-nationalistischen und demokratiefeindlichen Tendenzen, hat Steinmeier einen Nerv getroffen. Dafür ist ihm zu danken. Jedoch übersah er ein folgenschweres Erbe für ein plurales demokratisches Deutschland, oder ließ es zumindest unerwähnt, nämlich die gesetzliche Verankerung des biologischen Deutschtums im Kaiserreich, der Reichs- bzw. Staatsbürgerschaft nach dem Blut- oder Abstammungsprinzip im Jahre 1913.

Auch wenn das traditionell konservative Rechtssystem in Deutschland inzwischen leise Schritte unternahm, das ethnische, äußerst exkludierende Verständnis von Deutschsein an das konstitutionelle Verständnis der Deutschen als demos (Artikel 116) zu binden, verpasste Steinmeier durch sein Schweigen zu diesem Teil des Erbes des Kaiserreichs eine Gelegenheit und setzte so eine verhängnisvolle Tradition deutscher Politik fort: Er macht die migrantische Bevölkerung unsichtbar und erschwert somit deren demokratische Partizipation an der deutschen Gesellschaft.

Dass das Staatsangehörigkeitsrecht 1913 auf das jus sanguinis fußte, war keine Zwangsläufigkeit der Geschichte, sondern eine bewusste Entscheidung, der eine heftige Debatte vorausging, bei welche die radikalen und völkischen Alldeutschen kräftig mitwirkten. Während andere Nationen ihr Staatsvolk durch das Bekenntnis zu eben dieser definierten, institutionalisierte man im Kaiserreich ein biologisches Volksverständnis als Blut- und Abstammungsgemeinschaft. Beeinflusst von sozialdarwinistischen Vorstellungen erwies sich dessen legale Verankerung als überaus folgenreich. Denn damals gewann das rassistische Völkische an Kraft und somit die Idee der Überlegenheit bestimmter „Rassen“ im Kampf um’s Dasein, eine Weltsicht, die auf die Ebene der Nationen übertragen wurde. Die durch das Reichs- und Staatsangehörigkeitsrecht herbeigeführte und zementierte Definition des Deutschen war also nicht vom Humanismus der Dichter und Denker geprägt, sondern von den aufstrebenden Naturwissenschaften. Dazu gehörte eine übersteigerte rassifizierte Abwehrhaltung sowie ein radikal in Freund versus Feind geteiltes Weltbild. Dass dies noch nicht passé ist, lehrt ein Blick in die Zeitungen.

Genau auf dieser mentalen Disposition basierte eben jene Entscheidung für das jus sanguinis gegen das jus soli im Kaiserreich. Während sich etwa die westlichen Regionen tendenziell für das Territorialprinzip aussprachen, setzten sich die an der Ostgrenze mit ihrem Beharren auf dem jus sanguinis durch. Damit wollte man hauptsächlich die polnische und jüdische Bevölkerung aus Angst vor Überfremdung ausschließen, da sie als Gefahr für die fragile Einheit erschien. Die Biologisierung des Deutschseins durch das Reichs- und Staatsangehörigkeitsrecht resultierte also aus einem radikalen Homogenisierungswunsch, der eng mit einem starken Abwehrreflex gegenüber der real existierenden Vielfalt einherging.

Die Folgen des radikalen, rassifizierten Feinbildes nach außen sind längst bekannt, mündeten sie doch in den Ersten Weltkrieg. Die Konsequenzen im Inneren werden jedoch häufig nicht im adäquaten Umfang erfasst, obwohl dessen Radikalisierung im Nationalsozialismus – wie inzwischen gut erforscht ist – zur Katastrophe führte, und obwohl die mentalen Strukturen im Grunde bis in unsere Tage andauern, wenn auch mittlerweile oft unter einem euphemistischen, ethnisierenden und kulturalisierenden Mantel: Stellten früher vor allem Juden, Polen , Sinti und Roma, als „Volksfremde“ die Bedrohung dar, sind es heute vor allem ‚Ausländer‘, ‚Asylbewerber‘, ‚Kanaken‘, ‚Südländer‘, ‚Nafris‘ oder wie die abwertenden Bezeichnungen auch immer heißen mögen.

Die Verfasser:innen des Grundgesetzes 1949 haben unter dem Eindruck der Trümmer des Dritten Reiches und des Zweiten Weltkrieges die deutsche Verfassung den durch die Menschenrechte inspirierten Grundrechten verpflichtet und somit die auf derart unheilvolle Weise wirksam gewordene sozialdarwinistische Weltsicht abgemildert. Dies geschah etwa durch Artikel 3 Absatz 3, der Diskriminierung verbietet oder durch Artikel 116, der die Zugehörigkeit zum deutschen Staat nicht auf das Biologisch und Ethnische beschränkte und wonach Deutsche(r) nicht ist, wer eine bestimmte Abstammung oder weiße Hautfarbe hat, sondern wer die deutsche Staatsangehörigkeit besitzt. Auch wenn Artikel 116 als vorübergehend konzipiert war und man damit vor allem sowohl sogenannte Volkszugehörige im Ausland als auch exilierte Jüdinnen und Juden und deren Nachkommen umklammern wollte, schuf man ein progressives Zugehörigkeitsprinzip zur deutschen Nation, das für die Einwanderungsgesellschaft anschlussfähig sein könnte.

Allerdings nahm die Politik die in der Verfassung eröffneten Möglichkeiten kaum und sehr verspätet an, galt das Reichs- und Staatsangehörigkeitsrecht ja noch bis 1999, seit 1949 eben in einem Spannungsverhältnis zum Artikel 116 des GG.

Die Langlebigkeit des restriktiven Blutprinzips führte unter anderem zu dem bekannten Ergebnis, dass vor allem die zweite und folgenden Generationen der Migrant:innen zwischen die Stühle gerieten. Weder fühlten sie sich als Teil des Landes ihrer Eltern noch konnten sie sich zu Deutschland bekennen, was ihre Integration massiv erschwerte. Erst 1999 fasste eine rot-grüne Regierung den Entschluss, das Reichs- und Staatsangehörigkeitsgesetz an die soziale Vielfalt Deutschlands anzupassen. Indem die Reform das jus sanguinis durch das Territorialprinzip ergänzte, ermöglicht sie den in Deutschland geborenen Kinder von Ausländern die deutsche Staatsangehörigkeit zu erlangen, vorausgesetzt deren Eltern wohnen seit acht Jahren in Deutschland und besitzen ein unbefristetes Aufenthaltsrecht. Mussten sie früher im Alter von 21 Jahren zwischen der Nationalität ihrer Eltern oder der deutschen wählen, wurde diese Pflicht 2014. stark eingeschränkt.

Obgleich das reformierte Staatsangehörigkeitsrecht das Potenzial zur einer faireren Gestaltung der Einwanderungsgesellschaft beinhaltete, hat die Politik es bis jetzt – außer mit theoretischen Absichtserklärungen – kaum genutzt. Oder besser gesagt, dies geschah vor allem ex negativo durch die nationalistische AfD, indem sie jene gesetzliche Öffnung zu konterkarieren trachtete. Wie keine andere „bürgerliche“ Partei vorher, machte sie Bedrohungsszenarien und den dazugehörigen Hass gegen Ausländer, Asylbewerber und insbesondere gegen Muslime zum Motor ihrer Strategie. Dass dies auf fruchtbaren Boden fiel, zeigt ihr Erfolg: In kurzer Zeit gelang es ihr, einen beträchtlichen Teil der deutschen Bevölkerung dazu zu bewegen, sie zu „Volksvertretern“ zu wählen, nicht nur im Bundestag, sondern auch in den Landestagen. Der AfD dürfte auch zu „verdanken“ sein, dass sich das traditionell konservative Innenministerium in ein „Heimatministerium“ umbenannte, was den Wähler:innen das Gegenteil von Öffnungswille suggerieren sollte.

Für die Migrant:innen kam diese neokonservative, rassistische Wende nicht völlig überraschend. Denn sie hatten nur ein paar Jahre zuvor beobachten können, wie der sonst in Deutschland so glorifizierte und im Kaiserreich geschaffene Rechtsstaat im NSU Fall gescheitert war und wie ein menschenverachtendes Buch wie Sarrazins Deutschland schafft sich ab 2010 zum Bestseller wurde, auch unter den gebildeten Schichten, und in den seriösen Zeitungen des Landes besprochen wurde.

Erst eine Serie von rassistischen Anschlägen wie in Hanau und Halle, der Skandal um NSU 2.0 der Mord an Walter Lübke und eine Skandalreihe in der Polizei, schien jedoch die Politik und die Justiz ernsthaft dazu zu bewegen, auf die Gefahr vom Rassismus und Rechtsextremismus für die freiheitlich demokratische Ordnung zu reagieren. Dies mag erklären, warum das Bundesamt für Verfassungsschutz in seinem Verdikt zur Beobachtung des AfD-Flügels im Frühjahr 2019 das biologische Verständnis von Deutschsein und ein übersteigertes Deutschtum als rassistisch, diskriminierend und Gefahr für die demokratische Ordnung endlich identifizierte. Das hatte zwar schon das Bundesverfassungsgericht im (ablehnenden) Urteil zum Antrag auf ein NPD-Verbot 2017 getan, aber noch nicht mit dieser Klarheit und Entschiedenheit. Ob diese neue Einsicht des Verfassungsschutzes Verbreitung über die engen Kreise der Justiz hinaus finden wird, bleibt offen. Dass das Urteil unter Verschluss blieb und medial kaum Aufmerksamkeit erfuhr, mahnt eher zur Vorsicht.

Wenn der Bundespräsident also heute von der Verachtung von Pluralismus seitens deutscher Eliten im Kaiserreich spricht, sollte er die Biologisierung des Deutschseins durch das Reichs- und Staatsangehörigkeitsrecht nicht unerwähnt lassen. Denn sie war nicht nur der stärkste Ausdruck jener Verachtung von Vielfalt im Inneren, sondern hatte langlebige und wirksame Folgen bis in unsere Tage hinein. Ein Blick auf den Anteil der migrantischen Bevölkerung in Schüsselstellen im öffentlichen Dienst oder der Politik zeigt, welche Exklusionskräfte Gesetze wie das Reichs- und Staatsangehörigkeitgesetz im Alltag entfalten können.

Gewiss, das Kaiserreich bedeutete Aufbruch zum Rechtsstaat. Aber es zeigte zugleich, dass der Rechtsstaat kein Selbstzweck ist, sondern mit Inhalten und Leben gefüllt werden muss, und dass es lange Zeit dauern kann, bis dies mit demokratischen Werten, Freiheit zur individuellen Entfaltung und Menschenrechten geschieht. Was für einen zähen und langen Weg die Migrant:innen noch vor sich haben dürften, zeigt die Frauenbewegung, die trotz ihres jahrzehntelangen Kampfes und des internationalen Aufwindes, noch weit von der ersehnten Gleichstellung entfernt ist. Es wäre schön gewesen, der Bundespräsident hätte aus Anlass des 150. Jahrestages der Reichsgründung dieses Erbe ausdrücklich mit angesprochen und damit die Bilanz für alle heutigen Deutschen gezogen, von der Gegenwart aus und nicht den exklusiven Bedingungen der Vergangenheit.


 
 
pessoas
Clara Ervedosa



 
temas
racismo    pluralismo    migrantes    democracia    Alemanha