Fundierte Studien und Gerichtsurteile belegen: Racial Profiling ist Alltag in Deutschland. Seehofer bestätigt mit seinem Verhalten, dass Deutschland ein eklatantes Wahrnehmungs- und Sprachproblem in Sachen Rassismus hat.
Der Bundesinnenminister zog eine unabhängige Studie zu Racial Profiling bei der deutschen Polizei zurück, die die Europäische Kommission gegen Rassismus und Intoleranz (ERCI) der deutschen Regierung empfahl. Seehofer agiert so, als ob es das Problem nicht gäbe. Doch fundierte Untersuchungen sowie Gerichtsurteile belegen das Gegenteil. Was Seehofer nicht versteht: Racial Profiling ist ein Kernanliegen des freiheitlichen und auf Menschenrechten basierenden Rechtstaates. Es ist kein Randthema, auch nicht des Polizeirechts, das etwa nur ein paar nichtweiße Menschen in Deutschland betrifft.
Als Deutschland europäische und internationale Menschenrechtsverträge unterschrieb, wie etwa die Anti-Rassismus Konvention (ICERD) und die Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK), ging es damit völkerrechtliche Pflichten ein. Unter anderem die Aufgabe, Menschen vor Diskriminierung aufgrund rassistischer und ethnischer Zuschreibungen, wozu Hautfarbe und Phänotyp gehören, zu schützen1.
Was bedeutet dies in der Praxis? Dass jene ratifizierten Verträge2 geltendes Recht in Deutschland sind. Daran sind deutsche Polizei und Gerichte gebunden3. Auch das Bundesverfassungsgericht muss sie bei der Auslegung deutscher Gesetze und in der Rechtsprechung berücksichtigen. Außerdem ist Racial Profiling mit dem Art. 3 Abs. 3 GG – das ja schließlich die Basis für Seehofers Macht darstellt – nicht kompatibel.
CERD und ECRI kritisieren Racial Profiling in der BRD
Nichtsdestotrotz ist Racial Profiling Alltag in der BRD. Die Praxis gehört inzwischen zu den Hauptkritikpunkten des UN-Anti-Rassismus-Ausschusses (CERD) sowie der ECRI, die regelmäßig Berichte auch über Deutschland schreiben und dafür sowohl deutsche Behörden als auch zivilgesellschaftliche Organisationen konsultieren. Überhaupt ist die deutsche Polizei einer der Hauptkritikpunkte, wenn es um Rassismus und Diskriminierung in Deutschland geht. Und meistens ist die Kritik an ihr sogar fundamentaler: Ihr würden sogar die richtige Terminologie sowie ein Registrierungssystem fehlen, um rassistische Diskriminierung adäquat zu erfassen, so der Vorwurf.
In Concluding Observations on the combined 19th-22nd period reports of Germany 20154 drückt der UN-Ausschuss5 seine Sorge über Racial Profiling aus, ganz insbesondere über polizeiliche Kontrollen ohne konkreten Verdacht6. Der CERD geht so weit, der deutschen Regierung konkrete Empfehlungen zu unterbreiten wie etwa: Novellierung eben jenes Gesetzes, Trainingsmaßnahmen für die Polizei, Einführung von selbständigen externen Kontrollmechanismen sowie Untersuchungsaufträge. Diesem Urteil des CERD schließt sich die ECRI in ihrem im März 2020 erschienenen sechsten Bericht über Deutschland an und räumt dem Problem sogar einen breiten Platz ein. Fünf Jahre nach dem fünften Bericht sieht die Kommission keine nennenswerten Verbesserungen in diesem Punkt bei den deutschen Behörden, so die Klage.
Amnesty International schreibt es auch
Ein ähnliches Lamento findet man übrigens auch in der Studie von der international anerkannten Amnesty International: Living in Insecurity. How Germany is failing victims of racist violence (2016). Racial profiling7 wird als ein prominentes Beispiel unter vielen für das Versagen der deutschen Behörden im Kampf gegen Rassismus erwähnt8.
Unlängst wies ich in der ersten wissenschaftlichen Studie zum Begriff „Südländer“ bzw. „südländisches Aussehen“ in Polizeiberichten unter dem Titel: The Southerner is a perpetrator. „Südländer“ as racial profiling in police reports in der US-Germanistikzeitschrift Monatshefte darauf hin, dass die häufige polizeiliche Anwendung dieser Begriffe im Grunde eine Praxis des racial profiling darstellt. Denn die Polizei greift dabei auf äußerliche Merkmale (nicht-weiße Hautfarbe, dunkle Haare und Augen) als zentrales Kriterium bei Polizeifahndungen zurück. Eine elektronische Recherche in Blaulicht, im Presseportal der Polizei, ergab, dass im Jahre 2018 (bis 12.12.2018) der Begriff „südländisches Aussehen“ 459 Mal vorkam – und „Südländer“ 243 Mal. Mit dieser Praxis erklärt die Polizei mit all ihrer tatsächlichen und symbolischen Macht Menschen aufgrund ihres Aussehens und nichtweißer Hautfarbe reflexartig zu Nicht-Deutschen und leistet der diskriminierenden Meinung Vorschub, dass nur weiße Menschen deutsch sein können.
Zahlreiche Fälle und Gerichtsurteile
Die deutschen Behörden bekommen die Berichte des CERD und der ERCI regelmäßig zugeschickt und diese sind online leicht zugänglich. Als Innenminister müsste Seehofer sie also kennen, zumal im letzten Bericht der ERCI die besagte Studienempfehlung steht. Wenn er jedoch internationale Urteile für irrelevant hält, sind auch zahlreiche nationale Belege für Racial Profiling vorhanden.
Die Initiative Schwarze Menschen in Deutschland sowie Reachout, die Beratungsstelle für Opfer rassistischer Gewalt in Berlin, könnten dem Innenminister mit Sicherheit zahlreiche Fälle aufzählen. Wenn Seehofer, der ja bekanntlich Migration zur „Mutter alle Probleme“ erklärte, jedoch solche Organisationen nicht kontaktieren mag, so kann Sven Adam, deutscher Rechtsanwalt in einer Göttinger Anwaltskanzlei, der öfters Opfer von Racial Profiling unterstützte, den Minister gewiss aufklären. Unter anderem darüber, dass das deutsche Oberverwaltungsgericht Rheinland-Pfalz im Jahre 2012 entschied, dass die anlasslosen Kontrollen der Polizei eine verbotene Diskriminierung9 sind. Oder dass diese Praxis bereits 2010 vom Europäischen Gerichtshof (EuGH) als Verstoß gegen europäisches Unionsrecht zum „Schengen-Raum“ eingestuft worden war.
Auch der Menschenrechtsinsituts attestiert Rassismus
Dies kann Seehofer übrigens auch in der Studie von Hendrik Cremer ‚Racial Profiling‚10 genauer nachlesen. Der wissenschaftliche Mitarbeiter des Deutschen Institutes für Menschenrechte – das von verschiedenen deutsche Ministerien finanziert wird – kam schon 2013 zu dem Ergebnis, dass diese Praxis verfassungswidrig ist und internationale Menschenrechtskonventionen verletzt.
Auch die chronisch unterfinanzierte Anti-Diskriminierungsstelle des Bundes beklagte erst vor ein paar Wochen bei der Präsentation des Jahresberichts 2019 die Zunahme rassistischer Diskriminierung in Deutschland. In einer Studie von 2015 stellte sie gar fest, dass Aussehen und Hautfarbe bei Diskriminierungserfahrungen in Deutschland zentral sind. Damit bestätigt sie also die Erfahrungen vieler People of Color und Schwarzer Menschen wie May Ayim, Noah Sow oder Mohamed Amjahid unter vielen anderen.
Aber Seehofer nimmt all dies anscheinend nicht wahr. Mit seinem Verhalten bestätigt der deutsche Innenminister das Verdikt des CERD und der ERCI, dass Deutschland ein eklatantes Wahrnehmungs- und Sprachproblem in Sachen Rassismus und Diskriminierung an den Tag lege. Und dass die deutsche Politik eine große Verantwortung für diesen Zustand trage.
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Art. 1 Absatz 1 der ICERD, Art. 14 der EMRK
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gemäß Art. 59 Absatz 1 des Grundgesetzes (GG)
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Art. 20 Absatz 3 GG
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CERD/C/DEU/CO/19-22
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Seite 5 f
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nach § 22 Absatz 1 a und § 23 Absatz 1, Nr. 3 Bundespolizeigesetz (BPoIG)
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nach § 22 Absatz 1 a and § 23 Absatz 1, Nr. 3 BPoIG.
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Seite 51 f
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nach Art. 3 Absatz 3 GG
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Racial Profiling – Menschenrechtswidrige Personenkontrollen nach § 22 Abs. 1 a und § 23 Abs. 1, Nr. 3 Bundespolizeigesetz